Ein Jugendlicher „Spaßvogel“, eine anonym zugängliche Chat-Seite und ein Grafikprogramm. Das sind die Zutaten, um politische und gesellschaftliche Diskussionen auszulösen. Wenn die daraus scheinbar gewonnene „Erkenntnis“ durch Polizei, Spitzenpolitiker und letztendlich von den Medien großflächig verbreitet wird, ist das Chaos perfekt.
Innenminister Heribert Rech (CDU) sagte auf der Pressekonferenz, K. habe in der Nacht zu Mittwoch um 2.45 Uhr eine Botschaft auf krautchan.net platziert: "Ich werde morgen Früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen", stehe dort in einem Eintrag. Ermittler hätten auch entsprechende Daten auf dem PC des Amokläufers gefunden, fügte der CDU-Politiker nach der Pressekonferenz hinzu. [--> Link]
Unter obigen Link war gestern auf „Spiegel-Online“ noch nicht der eben zitierte Text, sondern die Sensationsmeldung zu lesen, dass der Amokläufer von Winnenden seine Tat nur wenige Stunden vorher in einem Chatroom gegenüber einen Chatpartner namens „Bernd“ angekündigt hatte. Der Vater dieses angeblich aus Bayern stammenden Chatpartner "Bernd" habe angeblich bei der Polizei diese Meldung gemacht, nachdem dieser von seinem Sohn über den angeblichen Inhalt des Chats informiert worden war. Bemerkenswert ist, dass man im Hause von „Spiegel-Online“ kurzerhand die gestrige Originalnachricht „berichtigt“ hat:
Anmerkung der Redaktion: Eine frühere Version dieses Artikels hatte als Überschrift ein Zitat aus einem angeblichen Internet-Forumbeitrag von Tim K.: "Ich werde morgen früh mal so richtig gepflegt grillen". Diesen und weitere Sätze hatte der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech bei einer Pressekonferenz am Donnerstagmittag veröffentlicht, SPIEGEL ONLINE übernahm sie. Tatsächlich wurde inzwischen von der Polizei dementiert, dass der Forumsbeitrag auf den Amokläufer zurückzuführen ist; vermutlich handelt es sich um eine Fälschung. SPIEGEL ONLINE hat deshalb diesen Artikel korrigiert und den Vorgang in einem eigenen Text thematisiert...
Ist das der wahre „Qualitätsjournalismus“, indem ehemals verbreitete falsche Nachrichten nachträglich geändert werden, wenn sie unbequem zu werden drohen? Nur gut, dass neben dem Internet und dem noch einfacher zu manipulierenden Medium Rundfunk immer noch die „gute, alte“ gedruckte Tageszeitung existiert, die inzwischen leider mangels Aktualität mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Was einmal gedruckt wurde, bleibt gedruckt.
Bei „Blick.ch“ bleibt man diesbezüglich derzeit wenigstens ehrlich, und so ist momentan noch die unbearbeitete Meldung von gestern zugänglich:
«Scheisse Bernd, es reicht mir», hatte Tim in der Nacht zuvor einem Chat-Kollegen geschrieben. «Ich habe dieses Lotterleben satt, immer das selbe – alle lachen mich aus», klagte er. Und fuhr fort: «Ich meine es ernst, Bernd – ich habe Waffen hier.» Dann wurde er noch deutlicher: «Ich werde morgen früh an meine frühere Schule gehen und mal so richtig gepflegt grillen.»
Doch der Chat-Kollege aus Bayern nahm Tim nicht ernst. Und die Drohung verhallte im Internet. Der Vater von Tims Chat-Kollege meldete sich gestern erst nach der Tat bei der Polizei. [--> Link]
Während man bei „Spiegel-Online“ gestern wenigstens in dem inzwischen nicht mehr zugänglichen Artikel erwähnte, dass der Chat-Name „Bernd“ auf der betreffenden Internetseite lediglich ein Standardname für jeden anonymen Chat-Teilnehmer ist (normalerweise befinden sich dort ständig zahlreiche „Bernds“ untereinander im Gespräch), ließen die meisten anderen Medien ihre Konsumenten darüber im Dunkeln, ja man konzentrierte sich sogar teilweise auf die Suche nach diesen mysteriösen „Bernd“.
Da angeblich die Polizei auf dem Computer des Amokläufers „eindeutige Hinweise“ für die Authentizität gefunden haben soll, blieb lange Zeit unbeachtet, was auf der betreffenden Chat-Seite „krautchan.net“ veröffentlicht wurde:
Qualitätsjournalismus
Leider wird unser winziger Server mit dem momentanen Ansturm nicht fertig. Es gibt allerdings auch gar nichts zu sehen, da die deutsche Presse sich bedauerlicherweise (vermutlich nicht zum ersten Mal) von einer Fälschung hat täuschen lassen.
Hier wurde kein Amoklauf angekündigt, es gibt hier nur Leute, die mit Photoshop umgehen können. Scheinbar ist recherchieren heutzutage uncool. Schlimm genug, bei Wikipedia abzuschreiben, aber hier? Grundgütiger.
Was man übrigens auf dem PC des Täters gefunden haben will, wissen wir nicht. Vielleicht hat er die Site mal besucht, den durch die Presse gegangenen Beitrag hat er jedenfalls nicht verfasst, denn der hat nie existiert.
(Hier ist ein Screenshot des ziemlich unspektakulären Originals, das absolut nichts mit Amokläufen zu tun hat.) [--> Link]
Wie dem auch sei, wir sind offline, bis der Traffic sich normalisiert hat.
Wer uns immer noch nicht glaubt, kann mal in den Google Cache schauen, und die Post-ID vergleichen. [--> Link]
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Was bleibt, ist die Frage, ob hier absichtlich Sensationsmeldungen von Seiten der Politik, Polizei und den Medien erzeugt wurden, oder ob man an den betreffenden Stellen einfach zu inkompetent ist, eine Suchmaschine richtig zu bedienen bzw. die Funktionsweise eines simplen Chats zu verstehen. Auf breiter Front betreiben die Medien nun Schadensbegrenzung und schieben „Ermittlern“ bzw. dem baden-württembergischen Innenminister Rech den schwarzen Peter zu:
Der baden-württembergische Innenminister Heribert Rech präsentierte die mutmaßliche Falschinformation am Donnerstagmittag auf einer weltweit beachteten Pressekonferenz als belastbares Indiz für das Motiv des Massenmörders. Der CDU-Politiker erzählte, der Hinweis auf den Forumseintrag auf Krautchan sei am Mittwochabend vom Vater eines 17-Jährigen aus Bayern gekommen. Der Sohn habe den Hinweis im Forum gesehen, erst gar nicht ernst genommen - aber nach dem Massaker in Winnenden die Information doch weitergegeben. Rech las den Eintrag wörtlich vor.
…
Am Abend erreichten SPIEGEL ONLINE Informationen, dass sich auf dem Computer des Amokläufers keinerlei Hinweise darauf befanden, dass K. jemals auf der Seite Krautchan war. Ein Waiblinger Polizeisprecher bestätigte dann, Rechs Annahmen hätten sich als falsch herausgestellt. Es gebe derzeit keinen Beweis, dass Tim K. den Forumseintrag selbst verfasst hat. [--> Link]
Nicht beantwortet wird die Frage, weshalb „Spiegel-Online“ nicht schon gestern Abend, sondern erst heute die „Notbremse“ zog und dabei sogar alte Nachrichten, wie oben erwähnt, nachträglich „abänderte“. Jedenfalls ist in diesem ganzen Durcheinander momentan noch nicht ersichtlich, ob die Fehlinformation ursprünglich von der Polizei oder von Innenminister Rech verbreitet wurde. Währenddessen wetzt die Opposition in Baden Württemberg bereits die Messer, um diese Panne für sich auszuschlachten:
SPD kritisiert Innenminister Rech wegen Fehlinformation
Er wollte einen Ermittlungserfolg präsentieren, jetzt steht Baden-Württembergs Innenminister Rech in der Kritik: Der Täter von Winnenden hat seine Tat offenbar doch nicht im Internet angekündigt, das angebliche Beweisbild war wohl gefälscht. Eine peinliche Panne, heißt es in der Südwest-SPD. [--> Link]
Wer bei diesem Medienrummel jedenfalls ganz sicher auf der Strecke bleiben wird, sind die Betroffenen und die Angehörigen der Opfer dieses schrecklichen Amoklaufs.
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